Hallo NOZ Team,

hier sende ich Ihnen meinen Leserbrief zum Artikel Wir müssen mehr und länger arbeiten (NOZ, 28.07.2025, Seite 6).

Mit ihrem Ruf nach mehr und länger arbeiten bedient Wirtschaftsministerin Katherina Reiche ein altbekanntes Narrativ: Die Bürgerinnen und Bürger seien schuld an allen wirtschaftlichen Problemen, weil sie zu früh in Rente gehen oder angeblich zu wenig arbeiten. Diese pauschale Darstellung ignoriert nicht nur soziale Realitäten, sondern ist auch sachlich verkürzt.

Reiche verweist auf internationale Vergleiche und bemängelt die durchschnittlich niedrige Jahresarbeitszeit in Deutschland. Was sie dabei verschweigt: Diese Zahl ist vor allem deshalb niedrig, weil hierzulande viele Menschen in Teilzeit arbeiten, häufig nicht freiwillig, sondern mangels besserer Alternativen. Hinzu kommen Urlaubsregelungen und Arbeitszeitmodelle, die dem Gesundheitsschutz dienen und mit hoher Produktivität einhergehen. Deutschland liegt bei der Produktivität pro Stunde im internationalen Spitzenfeld. Mehr Arbeitsstunden allein schaffen keinen Wohlstand, das zeigen Länder mit hoher Arbeitszeit und gleichzeitig großer sozialer Unsicherheit.

Völlig ausgeblendet wird in der Debatte, dass viele große Unternehmen seit Jahren das genaue Gegenteil tun: Sie drängen ältere Beschäftigte durch Abfindungen, Frühverrentung und Stellenabbau aus dem Arbeitsleben, weil diese zu teuer werden. Wenn also gefordert wird, Menschen müssten länger arbeiten, dann müssten Unternehmen zuerst bereit sein, diese Menschen auch tatsächlich zu beschäftigen, und zwar unter fairen Bedingungen.

Stattdessen wird der Eindruck erweckt, die sozialen Sicherungssysteme seien wegen der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr tragfähig. Fakt ist: Die Belastung durch Sozialabgaben ist seit Jahren stabil, und es wäre durchaus möglich, etwa die Rentenversicherung auf eine breitere Finanzierungsbasis zu stellen, inklusive Selbstständiger, Beamter und durch stärkere Steuerfinanzierung gesellschaftlicher Aufgaben. Dass ausgerechnet die Rentner und Arbeitnehmer jetzt zur „Gefahr für den Wohlstand“ erklärt werden, ist nicht nur unfair, sondern auch ein bequemer Vorwand, um von notwendiger Unternehmensverantwortung abzulenken.

Wer die Realität wirklich sehen will, muss sich fragen: Warum sollen Menschen länger arbeiten, wenn viele Arbeitgeber sie schon mit Anfang 60 nicht mehr wollen? Solange diese Frage unbeantwortet bleibt, ist der Ruf nach mehr Arbeit nicht mehr als ein Schlag ins Gesicht jener, die heute schon am Limit arbeiten, oder keine Chance mehr auf Arbeit bekommen.

Mit freundlichen Grüßen